|
|
Strukturelle Stigmatisierung: Wie unser Gesundheitssystem Menschen mit Adipositas im Stich lässt
Liebe Freundinnen und Freunde der DAG,
wir haben in Deutschland zweifelsohne eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Doch anders als bei anderen chronischen Erkrankungen müssen Betroffene mit krankhaftem Übergewicht ihre Behandlung vielfach aus eigener Tasche bezahlen. Wieso dieser Zustand unhaltbar ist und was das geplante "Disease Management Program" daran ändern kann, beschreiben wir in diesem Newsletter. Viel Spaß bei der Lektüre!
|
|
Adipositas: vom Risikofaktor zur chronischen Erkrankung
Wir schreiben das Jahr 1948. Als in Europa noch Hunger und Nahrungsmangel in Folge des zweiten Weltkriegs herrschten, nahm die WHO "Adipositas" in das Internationale Klassifikationssystem für Krankheiten ICD auf. Es ist die erste dokumentierte Anerkennung der Adipositas als eigenständige Erkrankung. Bis auch der Deutsche Bundestag diesen Schritt vollzieht, sollten weitere 70 Jahre vergehen. Mit der Verabschiedung der Nationalen Diabetes Strategie im Jahr 2020 war es dann soweit. Auch in Deutschland ist Adipositas seitdem offiziell eine Krankheit und nicht bloß ein Risikofaktor für andere Erkrankungen.
Was wie eine Formalie klingt, ist von großer Bedeutung für die Betroffenen. Denn der Zugang zu einer Krankenbehandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung setzt voraus, dass ein objektiv fassbarer, regelwidriger Zustand des Körpers oder Geistes besteht. Ein "Risikofaktor" ist dafür nicht ausreichend. Bei der Anerkennung der Krankheit Adipositas geht es letztlich auch um die Frage: Können Betroffene eine Behandlung im Rahmen des Solidarsystems erhalten oder wird ihnen der Zugang solange verwehrt bis etwaige Folgekrankheiten bereits aufgetreten sind?
|
|
Juli 2020, Deutscher Bundestag: Durch Verabschiedung der Nationalen Diabetes-Strategie wurde der Grundstein für eine Verbesserung der Versorgungssituation für Menschen mit Adipositas gelegt.
|
|
"Disease Management Program": Ein Meilenstein!
Auf die Nationale Diabetes Strategie im Jahr 2020 folge ein Jahr später der nächste Paukenschlag. Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – kurz GVWG – beschließt der Deutsche Bundestag, ein sogenanntes "Disease Management Program" zu beauftragen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) soll ein strukturiertes Behandlungsprogramm für Menschen mit Adipositas enwickeln, wie es sie für andere chronische Krankheiten seit vielen Jahren gibt. Das erklärte Ziel des "DMP Adipositas": Den Zugang zur Adipositastherapie grundlegend verbessern. Die Gesetzesbegründung ist auch heute noch lesenswert. Sie beschreibt unverblümt die desolate Versorgungssituation in Deutschland:
"Die Versorgungsrealität wird den besonderen Bedürfnissen von Versicherten mit Adipositas oftmals nicht gerecht. Eine mangelnde Vernetzung einzelner Leistungserbringer sowie eine unzureichende Anleitung und Motivation zur Eigeninitiative führen zu Unter- und Fehlversorgung mit entsprechenden medizinischen und ökonomischen Folgen. Von einer individuellen, interdisziplinären und sektorenübergreifenden Behandlung unter Berücksichtigung verhaltensmodifizierender, medikamentöser und nötigenfalls auch chirurgischer Interventionen profitiert dagegen bisher nur eine kleine Minderheit der Betroffenen. Insoweit besteht ein erhebliches Verbesserungspotential der Versorgungsqualität." (Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein GVWG, Drucksache 19/26822)
Diese offizielle Anerkennung der Unterversorgung durch den Deutschen Bundestag war zweifelsohne der zweite große Meilenstein, nach der Anerkennung der Erkrankung als solches.
|
|
Bausteine der Adipositas-Therapie bei Erwachsenen (Darstellung: DAG)
|
|
Wie genau lässt unser Gesundheitssystem Betroffene im Stich?
Ein Disease Management Program ist dringend benötigt. Denn obwohl wir mittlerweile sehr genau wissen, wie schwierig eine dauerhafte Gewichtsabnahme für die Betroffenen ist, lässt unser Gesundheitssystem die Betroffenen derzeit millionenfach im Stich. Anders als bei anderen chronischen Erkrankungen müssen Menschen mit Adipositas ihre Behandlung vielfach selbst bezahlen und Kostenzuschüsse individuell beantragen. Ob beispielsweise die Kosten für eine Basistherapie – bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs-, Verhaltensinterventionen – übernommen werden, unterscheidet sich je nach Krankenkasse. Mal kommt ein Zuschuss, mal nicht. Mal sind es hunderte, mal tausende Euro, die Betroffene aus eigener Tasche zahlen sollen.
Andere konservative Therapieoptionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet, da sie per Gesetz von der Kostenübernahme durch die Krankenkassen ausgenommen sind. Dabei liegen mit den neuartigen Wirkstoffen aus der Gruppe der Inkretin-Mimetika endlich gut verträgliche und sehr wirksame Arzneimittel vor, die eine Gewichtsreduktion unterstützen können. Wenn ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert wurde, können die gleichen Wirkstoffe zu Lasten der Kassen verschrieben werden – aber nicht bei Adipositas. Das ist geradezu exemplarisch: Unser Gesundheitssystem greift erst dann, wenn Folgeerkrankungen aufgetreten sind. Ein Ausdruck der vielfältigen Stigmatisierung, der Menschen mit Adipositas in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind.
Der Zugang zur Magen-OP – bei extremer Adipositas oft die einzig wirksame Option für Betroffene – konnte zuletzt durch verschiedene Gerichtsverfahren gestärkt werden. Dennoch wird die Leistung von einigen Kassen noch unter Genehmigungsvorbehalt gestellt. Und die lebenslang empfohlene "Nachsorge" mit Ernährungsberatung, Nahrungsergänzung, Kontrolle der Körperzusammensetzung sowie regelmäßigen Laboruntersuchungen muss überwiegend von den Betroffenen selbst gezahlt werden.
Die einzige Behandlungsoption bei Adipositas, auf die bundesweit und zweifelsfrei ein Anspruch besteht, sind "Apps auf Rezept" beziehungsweise Digitale Gesundheitsanwendungen. Das ist begrüßenswert und ein erster Schritt. Doch es versteht sich von selbst, dass DiGAs allein keine adäquate Antwort auf eine Erkrankung sein können, die jeden vierten Erwachsenen betrifft und eine der wichtigsten Ursachen für an Krankheit verlorene gesunde Lebensjahre darstellt.
|
|
Regelleistungen bei Diagnose Adipositas Erwachsene (Darstellung: DAG)
|
|
Wird mit dem Disease Management Program alles besser?
Es ist zweifelsfrei ein Meilenstein, dass ein Disease Management Program kommen soll. Die Basistherapie könnte, in Form von Patientenschulungen, mit einem DMP Adipositas bundesweit verfügbar werden. Doch ob Betroffene von dem Programm werden profitieren können, und welche Therapieoptionen ihnen dann offenstehen, ist noch nicht geklärt. Beides hängt nicht nur am konkreten Inhalt des DMP, wofür der G-BA verantwortlich zeichnet. Es hängt auch von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab. In zweierlei Hinsicht ist daher der Bundesgesetzgeber gefragt:
1. Die finanziellen Anreize zur Umsetzung der DMP gehören auf den Prüfstand. Neue DMPs können in der Versorgung erst ankommen, wenn die Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen sie in regionalen Verträgen umsetzen. Bei mehreren seit 2018 vom G-BA vorgelegten DMP ist dies bis heute nicht passiert. Manchmal hakt es an Details. Es spricht aber viel dafür, dass die finanziellen Anreize nicht ausreichen, um eine Umsetzung attraktiv genug zu machen. Es wäre fatal, wenn das DMP Adipositas am Ende in der Schublade landet. Die gesetzlichen Regelungen zur Finanzierung von DMP sollten daher auf den Prüfstand.
2. Die gesetzlichen Hürden für die begleitende Arzneimitteltherapie gehören beseitigt. Solange keine Änderung im fünften Sozialgesetzbuch erfolgt, wird auch ein DMP Adipositas keine Erstattungsfähigkeit für die neuartigen Medikamente herbeiführen können. Der gesetzliche Ausschluss aus der Versorgung ist medizinisch-wissenschaftlich nicht nachvollziehbar und erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm. Auch hier muss der Gesetzgeber noch Änderungen vornehmen, um die Weichen für eine verbesserte Versorgung zu stellen.
Sie merken: Es ist noch ein weiter Weg, bis die Anerkennung der Adipositas als Erkrankung sich in der real existierenden Gesundheitsversorgung durchgehend widerspiegelt. Große Meilensteine sind erreicht, doch es gilt weitere Widerstände zu überwinden. Die DAG ist als maßgebliche Fachgesellschaft im Bereich Adipositas mehr denn je gefragt, sich einzubringen.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung und herzliche Grüße aus Berlin,
|
|
Oliver Huizinga Politischer Geschäftsführer
|
|
PS: Werden Sie Mitglied der DAG!
Werden Sie Mitglied der DAG und stärken Sie damit die Prävention, Therapie und Erforschung der Adipositas! Wir klären die Öffentlichkeit über die gesellschaftliche Bedeutung der chronischen Erkrankung auf und fördern Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet. Diese Arbeit ist nur möglich durch die Unterstützung unserer Mitglieder. Wir würden uns freuen, wenn auch Sie uns mit Ihrer Mitgliedschaft unterstützen.
|
|
|
|
|